Liebe LeserInnen: Dieser Text wurde nominiert für den Scoyo ELTERN! Blog Award 2017. Mehr als 180 Einsendungen gab es und ich durfte unter den 13 Finalisten sein. Die drei Gewinnertexte findet ihr hier ♥
„Mei, wie liab!“, ruft die Frau an der Bushaltestelle und schaut auf meine beiden Kinder. „Ein Bub und ein Mädel, da haben Sie es aber gut getroffen. So wie man es sich immer wünscht.“ „Ja“, sage ich, „da haben wir es wirklich getroffen.“ Und dann steigen wir gemeinsam in den Bus, ich und meine Kinder, an jeder Hand eins. Wie praktisch. Zwei Hände. Zwei Kinder.
Die Kinder werden größer. Und wir wieder unabhängiger
„Nächstes Jahr“, meint die Freundin und guckt zu unseren Kindern, die gerade die ersten Versuche auf Skiern unternehmen, „nächstes Jahr können wir sie schon alleine am Kinderlift fahren lassen und parallel eine Runde auf die Loipe gehen.“ „Du hast Recht“, entgegne ich, „das wird herrlich!“ Und wir setzen uns am Rand der Skipiste auf den Schlitten und denken daran, wie schön es ist, wenn die Kinder langsam größer werden. Und wir wieder unabhängiger.
„Endlich hab ich wieder Zeit für mich“, sagt die Bekannte, die ich beim Sport treffe. „Mit Baby war das ja schon schön, aber jetzt bin ich echt froh, dass meine beiden aus dem Gröbsten raus sind.“ „Absolut!“, pflichte ich ihr bei, und wir sind uns einig, wie wichtig es ist, nicht immer nur Mutter zu sein. Sondern auch mal einfach wieder nur Frau.
„Hurra!“, schreie ich, als ich die Zusage für den Kindergartenplatz in den Händen halte. Ab Herbst darf nun also auch Kind 2 in den Kindergarten, und dazu noch in den gleichen wie seine Schwester. Der liegt 200 Meter ums Eck. Ein Sechser im Lotto. Das entzerrt meinen Tag, bringt mir Raum für meine Arbeit, meine Redaktionsprojekte. Es IST ein Sechser im Lotto.
Wieder anders reisen
„Was meinst du“, fragt der Mann am Abend, als die Kinder im Bett sind, „wollen wir mal wieder eine richtig tolle Fernreise machen? Bevor die Große in die Schule kommt? Die beiden sind langsam alt genug, dass man das ganz gut machen könnte. Was hältst du denn von Namibia?“ „Oh, ja!“ rufe ich „Namibia ist eine tolle Idee!“
„Komm doch auch mal wieder zu mir“, sagt die Freundin aus Kalifornien am Telefon. „Deine Kinder sind ja jetzt keine Babys mehr, die kannst du doch auch mal eine Woche beim Papa lassen. Dann besuchst du mich und wir mischen L.A. auf. Wie in den guten alten Zeiten.“ „Ahhh“, seufze ich und seh mich schon in Venice am Strand sitzen. „Sweet Memories, honey. Ich würd wahnsinnig gerne kommen, ich muss mal nach günstigen Flügen schauen.“
Am Wochenende spielen die beiden Kinder so herzzerreißend süß miteinander, dass mein Herz vor Freude hüpft. Langsam ernten wir die Früchte. Langsam merken wir, wie schön es ist, zwei zu haben. Zwei, die sich ergänzen. Wir sind eine Familie. Eine Familie aus vier Personen. „Nicht mehr nur dreieinhalb“, sagt der Mann und blickt voller Stolz auf unsere Kinder.
Es ist gut so wie es ist. Wirklich?
Es ist alles so wunderschön wie es ist. Wie gesegnet wir sind. Sage ich zu mir selbst. Und ich weiß, dass es stimmt. Ich WILL, dass es stimmt. Der Kopf nickt mir zu. Du hast alles richtig gemacht.
„Hallo“, sagt da eine kleine, zarte Stimme wie aus dem Nichts. Ich weiß nicht so recht wo sie herkommt und ob ich mir das nicht einbilde. „Hallo?“ frage ich unsicher „Wer bist du denn?“ „Wir sind dein Herz und dein Bauch. Wir finden ja, dass du immer viel nachdenkst. Der Kopf ist immer angeschaltet. Aber uns fragst du nie, wenn wir das mal sagen dürfen“, murmelt es.
„Was wisst ihr denn?“ erwidere ich und will weitergehen. Ich habe noch so unheimlich viel zu tun. Der Job, die Kinder, der Haushalt, das Ehrenamt, da bleibt wenig Zeit, um sich aufhalten zu lassen. Läuft grade doch so gut. Was soll das also bitte sehr.
Aber da ist dieses Bild. Und ich kann es nicht wegwischen.
Ich sehe mich. Und ich bin eine alte Frau. Ich sitze in einem Sessel mit weit geschwungenen Backen, vor mir ein kleiner Hocker, auf den ich meine Füße abstellen kann. Meine Haut ist alt und faltig geworden, die Haare weiß, der Blick trüb. Mein Leben war ein gutes Leben, ich weiß es. Ich habe eine wunderbare Familie. Ich bin gereist. Ich habe erfahren, was wahre Freundschaft ist. Ich habe geliebt und gelebt und nichts zu bereuen. Der Tod kann mich nicht mehr schrecken. Ich warte auf ihn jeden Tag. Ich bin bereit.
Mein Blick fällt auf den großen Tisch im Raum nebenan. Ich erinnere mich gut an die vielen Feste, die wir hier gefeiert haben. Wie alle in der Runde beisammen saßen und aßen und tranken. Wir alle an einem Tisch. Die ganze Familie. Mein Mann und ich. Und unsere beiden Kinder.
Dann blicke ich auf den Stuhl. Den fünften am Tisch, der immer da war, aber nie besetzt, wenn wir mit der Familie dort saßen. Der immer dort stand, ganz so als wartete er auf jemanden. Jemand, der erwartet wird und jederzeit zur Tür hereinkommen müsste.
In diesem Moment weiß ich es, und es schmerzt furchtbar. Es ist dieser dumpf pochende Schmerz ganz tief drinnen, den man immer dann fühlt, wenn sich Trauer und Sehnsucht vereinen, hilflos und resigniert, weil die Chance vertan ist. Weil sie niemals mehr wiederkommt. Weil die Vergangenheit so bitter sein kann, wenn man erkennt, welche Fehler man begangen hat.
So wie der Stuhl all die Jahre reserviert war für jemanden, der kommen wollte. Der hätte da sein sollen. Lange Jahre sind vergangen, seitdem wir es verpassten, diesen letzten Stuhl mit Leben zu füllen. Ich bin eine alte Frau und ich weine. Ich weine um den Menschen, der auf diesem Stuhl hätte sitzen sollen. Mein drittes Kind. Das nie geboren wurde, weil der Kopf all die Lasten nicht tragen konnte, die es bedeutet hätte. Und weil der Bauch und das Herz zu leise waren in den Momenten, die das entschieden hätten. Zwei Hände, zwei Kinder – so viel praktischer. Und man hat das halt eben so. Die leisen Stimmen, ich hab sie weggewischt, ich wollte sie nicht hören. Sie sagten etwas anderes. Ich hab sie weggesperrt. Und ganz tief drin höre ich sie jetzt. Zu spät.
Das Bild verschwindet, ich bleibe immer noch stehen und wage nicht mich zu rühren.
„Siehst du, wispert der Herz leise. „Jetzt verstehst du, was wir können und der Kopf nicht. Das wirklich Wichtige zu sehen, dafür sind wir da.“
Hallo Leben, hallo Nummer 3. Wir freuen uns so sehr auf dich!
Das Bild der alten Frau habe ich lange in mir getragen. Ich habe es zum ersten Mal gesehen, als meine Schwieger-Oma im vergangenen Jahr starb. Ihr Tod ging mir sehr nahe, denn sie war wie eine eigene Oma für mich. Und als ich das erste Mal nach ihrem Tod durch ihr leeres Haus ging, sah ich mich dort in diesem Sessel sitzen. In vielen Jahren, als alte Frau. Und plötzlich wusste ich, ich würde genau das fühlen, wenn ich versuche, mein Herz weiterhin zu ignorieren.
Es hört sich so pathetisch an, aber es ist einfach so. Manche Dinge kann der Kopf nicht entscheiden. Und wenn er es doch tut und wir uns zwingen, alles andere auszuschalten, laufen wir Gefahr, das unser Leben lang zu bereuen. Jetzt, wo es langsam real wird, wo mein Bauch mich im wahrsten Sinne des Wortes jeden Tag dran erinnert, dass es gut war auf ihn zu hören, da nagt sich diese unbändige Freude in mich hinein. Weil ich weiß, es war richtig. Selbst der Kopf weiß es jetzt und wir alle teilen dieses Glück, dass wir ein weiteres Mal das Wunder erleben dürfen, das sich Leben nennt.
Unser fünfter Stuhl bleibt nicht leer. In einem halben Jahr schon ist er besetzt.
3 comments
Ich kann dich bestens verstehen und freue mich schon sehr, sehr darauf. ….und das auch noch im neuen Garten!! wunderbar!
Ich kann dich bestens verstehen und freue mich sehr sehr!!
Wow, dein Text trifft bei mir voll ins Schwarze! Mein Herz sagt ein Drittes, der Verstand sagt nein.. Noch weiß ich nicht, was es letztlich wird..