Der November ist ein Monat, der den Tod irgendwie für sich gepachtet hat. An Allerheiligen geht man hier in Bayern ganz selbstverständlich auf den Friedhof. Es gibt den Totensonntag und den Volkstrauertag. Selbst der Buß- und Bettag (den es an den bayrischen Schulen als freien Tag immer noch gibt) trägt dieses Melancholische, Endzeitige in sich. Ja, im Grunde ist ja auch dieses ganze Halloween-Treiben dem Tod und der Dunkelheit geschuldet.
Nun war vor einigen Tagen erst die Beerdigung meiner „Schwieger“-Oma, die im gesegneten Alter von fast 95 Jahren ganz sanft eingeschlafen ist. Und deswegen sind mir Tod und Friedhof gerade noch präsenter als in manchen anderen Jahren. Und die Trauerfeier hat mir vor allem wieder eines nahe gebracht: Im Tod steckt auch so viel Leben. Denn ohne das Leben gibt es keinen Tod und ohne den Tod kein Leben. Es ist eines der großen Phänomene, wie wir unser Leben leben im Bewusstsein unserer eigenen Endlichkeit und doch ein frohes, gutes Leben leben können.
Wir halten immer dann inne, wenn etwas passiert, das uns diese Endlichkeit schmerzhaft vor Augen führt, ich habe ja selbst schon darüber geschrieben. Es ist die Leere, die uns Angst macht, nicht der Tod selbst. Weil wir nicht wissen, was uns erwartet. Und weil wir auch immer eine leere Stelle hinterlassen. Und weil die, die zurückbleiben, mit dieser Leere leben müssen.
Die Angst vor der Leere
Als ich vergangene Woche in der Kapelle saß und Abschied von der Oma nahm, da habe ich diese Leere gar nicht realisiert. Sie traf mich mit voller Wucht, als ich am Tag danach ihr Haus betrat. Da war sie nämlich, diese allumfassende Stille. Dabei hätte doch die Oma freudestrahlend an der Tür stehen müssen, den Besuch begrüßend, die Kinder herzend. Wir hätten auf der Couch gesessen und Filterkaffee getrunken, viel zu viel, weil die Oma immer zu viel Kaffee machte. Es könnte ja einer kommen, der noch fünf Tassen trinkt.
Aber niemand war da. Das Haus war wie eine Hülle, wie ein toter Körper eine Hülle ist, und jetzt war sie nicht mehr gefüllt mit Leben.
All das, was ein Mensch hinterlässt, wenn er stirbt. Und immer wieder diese Frage. Was hinterlasse ich. Es tut gut, Trauer zuzulassen, auch um jemanden, der sein Leben gelebt hat, voller Kraft und Energie, die ein gutes, ein langes Leben hatte. Man sagt dann Worte wie „Es ist gut so, wie es ist“ und „Am Ende war es eine Erlösung.“ Und trotzdem bleiben die Gedanken, die nagen und sich ins Herz brennen. Für immer einzuschlafen. Wer vermag sich das vorzustellen, wie das wohl ist. Was werde ich fühlen, wenn es soweit ist. Werde ich mein Leben dann gelebt haben bis zur letzten Sekunde, alle Wünsche und Träume erfüllt, alle Wunden geheilt, alle Worte gesprochen und geschrieben?
Das Licht und das Leben feiern
Und dann denke ich daran, wie ich über den Friedhof gehe, vorne marschiert würdevoll der Herr mit Uniform. Er trägt die Urne. Das Grab ist voller Blumen und Kränze. Bunt ist es. Lebendig. Die Herbstsonne scheint ganz mild vom Himmel und taucht alles in dieses warme, schmeichelnde Licht. Als hätte der liebe Gott beschlossen, einen kleinen Gruß zu schicken. Egal ob man glaubt oder nicht, an was auch immer, dieser Moment ist tröstlich. Weil wir etwas zum Anfassen haben. Etwas, das die Leere füllt. Und deswegen gibt es so etwas wie Allerheiligen. Weil wir an diesem Tag dem Tod die Ehre erweisen. Und damit auch dem Leben.
Der Oma hätte das alles ganz wunderbar gefallen.
EDIT Dieses Gedicht von Hilde Domin habe ich auf der Trauerfeier gelesen. Das Schöne an Poesie ist, dass sie all unsere Ängste, Träume und Wünsche auf engstem Raum komprimieren kann. So wie diese Zeilen. Unser Leben ist nichts als ein Wimpernschlag. Und doch ist es so kostbar. Wir sollten niemals aufhören, es zu feiern.
DAS GOLDENE SEIL
Nichts ist so flüchtig
wie die Begegnung.
Wir spielen wie die Kinder.
wir laden uns ein und aus
als hätten wir ewig Zeit.
Wir scherzen mit dem Abschied,
wir sammeln noch Tränen wie Klicker
und versuchen ob die Messer schneiden.
Da wird schon der Name
gerufen.
Da ist schon die Pause
vorbei.
Wir halten
uns bange fest
an dem goldenen Seil
und widerstreben dem Aufbruch.
Aber es reißt.
Wir treiben hinaus:
hinweg aus der gleichen Stadt,
hinweg aus der gleichen Welt,
unter die gleiche,
die alles vermengende
Erde.