Lieber kleiner Mann,
wir kennen uns noch nicht. Wobei, so ganz stimmt das ja gar nicht. Natürlich kennen wir uns. Du bist seit fast neun Monaten bei mir, so eng wie kaum jemand anders. Ich spüre dich schon so lange, ja ich bin mir sicher, ich habe dich zum ersten Mal an meinem Geburtstag gespürt, da war es erst die 12. Woche unserer gemeinsamen Zeit. Dein Papa, deine Geschwister und ich saßen in diesem tollen Restaurant am Meer und da spürte ich diese Bewegung, ganz sanft nur, kurz wie ein Wimpernschlag. Ich bin mir sicher, das warst du.
Damals war es Sommer, wir gruben unsere Zehen in den Sand und ließen die Sonne auf unsere Haut scheinen. Da warst du schon bei uns, so miniklein noch und doch schon ein richtiges kleines Menschlein. Mit Armen und Beine, Zehen und Fingern. Das Wunder des Lebens ist immer wieder so unbegreiflich.
Dankbar sein. Für alles.
Viele Wochen sind seitdem vergangen, viele Wochen, in denen auch viel passiert ist. Hätte ich es damals geahnt? Nein. Und vermutlich ist es ganz gut so. Wir haben schon die ein oder andere Turbulenz miteinander durchgestanden, kleiner Mann, und genauso viele wunderschöne Momente. Die vielen ersten Male einer Schwangerschaft. Ich bin so dankbar, dass ich all das nochmal erleben durfte und darf. Gleichzeitig bin ich immer auch ein wenig wehmütig, weil ich weiß: Diese besonderen Momente werden nie wieder kommen. Du wirst mein letztes Kind sein, das wusste ich schon, als ich im Frühjahr diese blassrosa Linie gesehen habe, die mir sagte: Da kommt nochmal jemand. Jemand, der bisher einfach noch fehlte. Und dann sind wir komplett.
Das Fest der Liebe. Und die Geschichte einer Geburt.
Bald ist Weihnachten, nur noch zwei Tage, dann ist es soweit. Wir werden unter dem Baum sitzen und dieses Fest feiern, bei dem es auch um eine Geburt geht. Und um so viel mehr als das. Die Liebe. Liebe ist etwas, ohne dass es kein Leben gibt, denn nur durch sie entsteht Leben. Und nur durch sie wird ein Leben lebenswert. Es gibt diesen einen Moment im Leben einer Mutter, der sich unwiederbringlich einbrennt, für immer. Es ist der erste Blick in die Augen ihres neugeborenen Kindes. Kleiner Mann, ich freue mich so sehr darauf. Weil in diesem Moment die Liebe noch viel größer wird, weil sie in diesem Moment etwas erschafft, das durch nichts und niemand jemals zerstört werden kann.
Und manchmal geht sie einfach verloren
Und gleichzeitig bin ich so traurig, gerade jetzt zur Weihnachtszeit. Weil es dann eben doch passieren kann, dass sie irgendwann verloren geht. Weil es Menschen gibt, die die Liebe vergessen haben. Weil es Menschen gibt, die sie nie erfahren werden. Weil es nicht selbstverständlich ist, geliebt zu werden.
Liebe zu zeigen, ist nicht gerade „in“ in diesen Tagen. Weißt du, ich habe gerade in letzter Zeit einige Male ganz schön schlucken müssen, als ich Kommentare anderer Menschen gelesen habe, in diesem Ding namens „Internet“ (du wirst es auch noch kennenlernen, da bin ich mir sicher:)). Weil die Vorweihnachtszeit auch immer dazu da ist, an andere zu denken und denen, die nichts haben, etwas zu geben, gab es natürlich Menschen, die danach gefragt haben. Nach Spenden für diejenigen, die eben nichts haben. Das ist normal und wird jedes Jahr so gemacht.
Aber es gibt Menschen, die können es nicht lassen, gerade dort ihre giftigen Gedanken zu verbreiten. Und ja, sie schimpfen auch auf die Kinder. Kinder in Ländern, in denen Krieg herrscht oder Hunger. Oder beides. Und das macht mich unendlich traurig – dass es so viel Leid gibt und dass es Menschen gibt, die dieses Leid noch zusätzlich mit Füßen treten. Als wäre die Welt nicht auch so schon kalt genug.
Ich zeig dir die Liebe
Wenn ich mir eines wünsche, dann ist es das: Dass du ein Mensch wirst, dem es nicht egal ist, wie es anderen geht. Dass du immer mit offenen Augen durchs Leben gehst und dort anhältst, wo du gebraucht wirst. Dass du Spuren hinterlässt. Und dass du fähig bist, Liebe zu spüren und Liebe zu geben. Und ich werde alles dafür tun, dass du ein solcher Mensch werden kannst. Ich glaube, es ist ganz einfach. Weil ich dir zeigen werde, was Liebe ist.
Aber vielleicht muss ich das gar nicht? Weil es doch die Liebe ist, die wir ohnehin alle in uns tragen. Die wir spüren in dem Moment, in dem wir diesen rosa Streifen sehen. In dem wir dieses zarte Flattern im Bauch bemerken. Die großen erstaunten Augen dieses Babys auf unserer Brust, gerade erst geboren und doch schon so vertraut. Und die wir in diesen Momenten ganz automatisch weitergeben, an die, die wir neun Monate lang unterm Herzen tragen.
Ohne Liebe? Sind wird nichts.
Wir dürfen nur nie zulassen, dass uns jemand diese Liebe wegnimmt. Denn ohne Liebe gibt es kein Licht. Und ohne Licht kein Leben. Gerade an Weihnachten sollten wir daran denken. Gerade dann, wenn wir die Lichter anzünden, die uns doch genau daran erinnern sollen.
Und wenn du dich auf den Weg machen wist, kleiner Mann, hinaus in diese Welt, irgendwann in den nächsten Tagen, dann ist das der Anfang von so vielem. Die Liebe aber, die ist schon so lange da.
Ich freu mich so sehr auf dich.
In Liebe.
Deine Mama
Foto: Brigitte Tohm/Unsplash
2 comments
Aus ganzem Herzen alles Gute ♥ So, so schöner Text und so, so schön, dass ihr noch ein Kind zu euch dazu kommt ♥
Danke liebe Michaela! Ich wünsch euch auch schöne Feiertage und kommt gut ins neue Jahr. Ja, und ich hoffe sehr, dass wir uns ganz bald wieder sehen. Auf dem Gipfel oder im Tal – mein Kaiserschmarrn wartet ja immer noch auf dich :-) Alles Liebe <3