Vor Kurzem las ich einen Artikel in der Süddeutschen, der mit seitdem im Kopf herumgeht. Gerade jetzt an Weihnachten. Er handelte davon, wie die Menschen an der kroatisch-slowenischen Grenze den Zaun, den man dort errichtet hat, mit Christbaumkugeln geschmückt haben. Weil sie ein Zeichen setzen wollten. Gegen den Zaun. Für das Miteinander.
Zäune zu bauen ist wieder in Mode gekommen in Europa. Zum Ende des Jahres 2015 existieren wohl so viele Zäune wie schon lange nicht mehr. Entlang der geografischen Grenzen. Und in den Köpfen.
Offiziell will man die Flüchtlingsströme besser kanalisieren. Will vermeiden, dass sich die Menschen, die sich auf diesen langen, entbehrungsreichen Treck durch den halben Kontinent machen, nicht ordentlich verhalten. Es gibt Regeln. Und weil irgendwann klar wurde, dass diese Regeln nicht mehr zu halten sind, weil es einfach zu viele waren und sind, die da kommen, da fing man an Zäune zu bauen. Und dort, wo es noch keine Zäune gab, da fing man an, lautstark danach zu verlangen.
Es gab Zeiten, da waren Zäune überall und sehr präsent. Wir sollten vorsichtig damit sein, uns wieder in diese Zeiten zurück zu wünschen.
Ich bin an einer Grenze aufgewachsen, und ich kann mich noch gut daran erinnern. Wir Kinder waren immer furchtbar aufgeregt, weil man hätte ja seinen Kinderausweis vergessen haben können und die französischen Grenzbeamten guckten immer so streng. Und wenn sie dort auch noch so europäisch daherreden, wenn es mittlerweile Fahrradbrücken über den Rhein gibt und demnächst eine Trambahn, die beide Rheinseiten verbindet und seit mehr als zehn Jahren den „Jardin des Deux Rives“ auf beiden Seiten des Rheins, wenn man schnell mal „rüberfährt“ nach Straßburg, um Käse, Fisch oder Crémant zu kaufen. Es ist immer noch eben das: RÜBER fahren. In ein anderes Land. Und die von „drüben“ sind immer noch „die Franzosen“.
Die Grenze als richtige, sichtbare Grenze zum Anfassen ist schon lange weg, Schengen hat es möglich gemacht. Und trotzdem ist sie immer noch da. Unsichtbar. Jahrzehntelang gelernt. Zwei Länder. Zwei Nationen. Zwei Seiten. Und jetzt, nach den Anschlägen in Paris im November, haben sie die Grenze wieder errichtet. Die Grenzkontrollen sind wieder da. Jetzt muss man wieder daran denken, seinen Ausweis mitzunehmen.
Trotzdem: Unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, die so offen ist wie nie zuvor. Wir denken so oft, wie seien grenzenlos. Distanzen überwinden wir digital. Wir reisen ans andere Ende der Welt. Wir schließen Freundschaften über Kontinente hinweg, die Facebook für uns pflegt. Unsere Kinder halten es für selbstverständlich. Weil wir es selbst für selbstverständlich halten.
Bei all diesen Möglichkeiten und Freiheiten vergessen wir aber, dass es nicht stimmt. Wir sind nicht grenzenlos. Der Sommer und der Herbst 2015 legen davon ein Zeugnis ab. Der Wunsch danach, Zäune zu bauen, sich zu schützen – vor wem oder was auch immer. Der Egoismus, der sich Bahn brach in so mannigfaltigen Stimmen. All die Phrasen, die gedroschen wurden von Nation und Vaterland, all das Geschrei von Selbstmitleid und Nicht-Geben-Wollen. Sie zeigen doch, dass die Offenheit, die wir uns immer angedichtet haben, so nicht existiert.
Ich würde mir wünschen, sie täte es. Ich mag Grenzen nicht. Sie engen mich ein. Natürlich möchte ich meinen Kindern zeigen, dass es möglich ist, frei zu leben. In Freiheit zu leben. Grenzenlos zu leben. Dass es egal ist, ob einer schwarz, weiß, rot oder blau ist. Dass es egal ist, wen man liebt und wie. Dass es egal ist, welche Religion man hat. Wenn überhaupt.
Ich möchte ihnen, wenn sie älter sind, ein paar lustige Anekdoten erzählen können. Wie wir damals mit 18 an der Schweizer Grenze kontrolliert wurden und stundenlang unser komplettes Auto auf den Kopf gestellt wurde, weil die Grenzer felsenfest davon überzeugt waren, dass wir Drogen dabei hätten. Wie wir vor jedem Skitag in den Tiroler Bergen Geld wechseln mussten (ist noch gar nicht so lange her!), was beim Wechselkurs des Schillings durchaus mal in die Tausender ging. Wie man dann auf der Piste den Grenzbaum passierte.
Ich möchte ihnen von den vielen Grenzen erzählen, an denen ich schon entlang gewandert bin. Die ich überquert habe. Am Rio Grande in der rostroten Weite von Texas. In den Weinbergen der Südsteiermark. Im Moloch von Tijuana. Auf einem Tauchboot in der Unendlichkeit der Andamanensee.
Ich möchte ihnen erzählen, dass Grenzen dazu da sind zu lernen. Zu lernen, wie man sie überwindet. Zu lernen, dass es absolute Freiheit nicht geben kann. Dass man sie aber nutzen kann, um sich selbst zu öffnen. Um zu verstehen, dass Miteinander besser ist als Gegeneinander.
Um zu verstehen, dass es die Grenzen in unseren Köpfen sind, die uns unfrei und ängstlich machen. Und dass wir mit ihnen immer nur das eine sein werden: Begrenzt. In unserem Horizont. In unseren Gedanken. In unserem Leben.
Jeder, der lautstark danach ruft, mehr Zäune zu bauen, sollte daran denken.
EDIT: Als ich diesen Text schrieb, dachte ich plötzlich an dieses Gedicht von Rilke. Ich liebe es sehr (wie vieles von ihm). Stäbe sind Grenzen sind Unfreiheit sind Furcht sind Traurigkeit. Unendliche Traurigkeit. Bis in den Tod.
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Fotocredit © blende11.photo / Fotolia
2 comments
Deine Kinder ( und dein Mann ) haben großes Glück so eine Mutter ( und Frau )
zu haben. Ich freue mich darüber….Ruth
Danke Ruth! Deine Worte rühren mich sehr! :-)