Liebes München,
wir kennen uns schon ganz schön lange. 20 Jahre sind eine lange Zeit, oder, das kann man doch so sagen? Ich weiß genau, wann wir uns das erste Mal trafen. Es war Sommer, ich war mit dem Frühzug angekommen und als Allererstes ging ich in den Englischen Garten. Weil er das Einzige von dir war, das ich kannte, vom Hörensagen zumindest mal. Ich war ja noch nie da gewesen. Ich knapp 19-jähriges Provinz-Häschen, das bereit war, in die große weite Welt zu ziehen.
München, das war immer wie so ein Traum.
Wir Kinder vom Land hörten Geschichten von wilden Partys in Schwabing und vom FC Bayern und waren sicher – da ist es toll. Und deswegen bin ich zu dir gekommen, diesem Gefühl gefolgt, hab Berlin und Hamburg und Köln und alles andere ausgeschlagen, denn ich wollte zu dir.
Da saß ich am Eisbach und einige Monate später in der Aula der Uni bei den ersten Vorlesungen. Alles war groß und fremd und aufregend. Diese ersten Jahre mit dir haben mich geprägt. Sie haben aus dem Landkind ein Stadtkind gemacht. Eins mit Liebe für Cafés und gute Restaurants, eins das deine Clubs und deine Bars entdeckte, das sich anders kleidete, anders sprach als früher. Wenn ich wieder in dieses „Früher“, die alte Heimat, fuhr, sagten die Leute zu mir: Man merkt, dass du jetzt in der Stadt wohnst.
Liebes München, ich erinnere mich so genau an unsere vielen ersten Male. Das erste Mal U-Bahn-Fahren. Die 10er-Streifenkarte kostete damals 13,50 Mark. Das erste Mal Sushi-Essen (ich wusste bis Anfang 20 gar nicht, was das war, ich geb es zu!). Die erste durchgefeierte Nacht im Nachtwerk an der Landsberger Straße. Wenn ich an diese Jahre denke, in denen ich so jung und so unendlich frei war, dann spüre ich diese unbändige Liebe zu dir. Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin.
Gewiss, ich war dir untreu, es gab diese Momente, da musste ich einfach schauen, wie es woanders ist. Ich musste unbedingt wissen, ob Berlin nicht doch toller ist. Ich musste es ausprobieren, ob das süße Leben in Kalifornien tatsächlich so süß schmeckt. Ich fand vieles. Vielleicht sogar eine andere Liebe, mein riesiges, blechernes, blinkendes Los Angeles, an das ich noch heute so oft zurückdenke, machmal voller Wehmut, meistens aber voller Dankbarkeit für all das Erlebte dort.
Aber dich, München, dich gibt es nur einmal. Wie sehr wurde mir das bewusst, wenn ich weg war. Und ich kam immer wieder zu dir zurück.
Liebes München, ich kenne mittlerweile so viele Plätze, die mich deine Seele spüren lassen. Der Viktualienmarkt am frühen Morgen. Diese eine Bank im Englischen Garten, auf der ich vor fast 20 Jahren saß und versuchte anzukommen bei dir und mit dir. Das stille Untergiesing, das ich so sehr mag, eben weil es so still und unaufgeregt ist. Den Hofgarten im Sommer. Und immer wieder die Isar.
Für mich ist die Isar München und München ist die Isar, es geht nicht ohne.
Ja, ich denke, sie würde ich am meisten vermissen. Denn sie ist dein Herz, deine Seele, deine Lebensader. Sie ist der Ort, der uns immer wieder daran erinnert, was dich so einzigartig macht: Die Verbindung zur Natur, zu den Bergen, die an manchen klaren Tagen direkt hinter der Stadt zu stehen scheinen. Wie könnte ich ohne sie sein. Unser großer Garten, unser Abenteuerspielplatz vor der Haustür, unser Naturpark mitten in der Stadt.
Liebes München, in all den Jahren hast du dich verändert. Zum Guten wie zum Schlechten. Veränderungen sind wichtig und richtig. Sie öffnen die Tür für Neues. Aber du bist teuer geworden und so voll. Weil du so wunderschön bist, wollen dich alle. Wer kann es ihnen verdenken! Ich verstehe es und doch spüre ich tief im Innern diese Unzufriedenheit, erst war sie da ganz leise, kaum wahrnehmbar. Die vielen kleinen Dinge, die erst stören, wenn sie zusammen kommen.
Es wird so viel gebaut, auch hier in der“Hood“, gerade hier! Die Immobilienmenschen überschlagen sich mit Lobhudeleien auf unser Viertel, weil es so „urban“ und „lebendig“ sei, und jeder Satz, jeder Marketing-Slogan treibt den Mietpreis und den Kaufpreis noch höher. Wir haben uns umgesehen, wir wollten gerne eine etwas größere Wohnung, mit zwei Kindern in drei Zimmern und auf knapp 80 Quadratmetern ist das doch ein legitimer Wunsch oder? Wir haben uns Wohnungen angesehen – Lofts mit Galerien und toller Kochinsel, mit viel Glas drumherum, wunderschön anzuschauen. Nur für Familien leider ungeeignet. Wir haben uns mit anderen Leuten gestapelt, wenn mal eine Wohnung angeboten wurde die groß genug und sogar bezahlbar war. Wir haben uns gewundert, wer sich 3000 Euro Kaltmiete im Monat wohl leisten kann.
Und irgendwann haben wir uns nicht mehr gewundert. Wir haben das Geld genommen, das uns ein Zimmer mehr kosten würde und haben uns damit ein kleines Domizil in den Bergen zugelegt. Jetzt pendeln wir oft hin und her und merken, wie gut es uns tut, draußen zu sein. Ich atme dort freier. Ich spüre so viel weniger Anspannung. Sicher, es ist zumeist Wochenende dort. Aber es ist noch etwas anderes. Etwas, das ich so lange versuchte zu ignorieren.
Es ist die Erkenntnis, dass das Stadtleben mich müde macht, so unendlich müde. Alles immer drei Stockwerke nach oben schleppen. Kinder, Einkäufe, einfach alles. Nie einen Parkplatz zu finden. Die Baustelle auf dem Dach, seit fast einem Jahr, die nie fertig zu werden scheint. Die 50 anderen Baustellen drum herum. Der Dreck, der vor unserem Haus abgeladen wird. Der Hundekot. Die überfüllten Spielplätze, die endlosen Warteschlangen und Anmeldelisten bei allem, was man braucht – Behörden, Hebamme, Geburtsklinik, Kita, Hort, sogar für den Ballettunterricht, den sich meine Tochter immer mal wieder so sehnlich wünscht, gibt es eine Liste („Wir wissen nicht, wann der nächste Platz frei werden wird. Tragen Sie sich gerne schon mal in die Warteliste ein.“).
Und die Taktzahl schlägt immer schneller und schneller, je älter unsere Kinder werden. Ich merke so sehr, dass sie mehr Raum brauchen. Mehr als wir ihnen zur Zeit bieten können. Mehr als du ihnen bieten kannst.
Liebes München, und deswegen wird es irgendwann Zeit sein, Abschied zu nehmen. Ich werde unendlich viel vermissen. Mein Herz wird schon jetzt schwer, wenn ich daran denke. Ich werd nicht weit weg gehen, aber es wird anders sein. Mitten drin werd ich nicht mehr sein …. wo ich doch genau das so sehr liebe. Die Morgenstunden auf dem Viktualienmarkt. Der Kaffee ums Eck, einfach mal schnell gestoppt auf dem Weg vom Kindergarten. Der Geschmack des Sommers in der Stadt, das Gemurmel der Isar bei Nacht.
Ich geh nicht weit weg, das mag sein. Gefühlt bin ich ja immer noch an deinem Rand. „Ich kann immer noch in den Zug steigen oder in die S-Bahn. Ist ja nur eine halbe Stunde Fahrt!“ wie oft habe ich diesen Satz schon gehört, von all denen, die schon „raus“ gezogen sind. Ich weiß genau, dass er nur eine Floskel ist. Es ist nicht das Gleiche wie mittendrin zu leben und nur die Tür aufmachen zu müssen und mitten im Leben zu stehen. Deinen Puls zu spüren, deinen Rhythmus zu atmen. Tag und Nacht.
Hättest du mich vor einem Jahr gefragt, ich hätte dir gesagt, ich bleib immer bei dir. Aber so ist das eben mit den Plänen. Das Leben schreibt sie immer neu.
Ich wünsche mir nur, du erkennst irgendwann, dass du deine Kinder nicht fressen darfst. Du musst ihnen den Raum zum Leben lassen. Vergiss sie nicht, deine Kinder. Denn sie machen dich zu dem, was du bist. Nicht die Investoren, nicht die Marketing-Broschüren. Sondern die Menschen. Die Jungen und die Alten, die Alleinstehenden und die Familien. Die Bayern und die Zugroasten. Jeder auf seine eigene Art und Weise. Vergiss sie nicht.
So wie ich dich nicht vergessen werde. Vermissen werde ich so vieles. Das Wichtigste nicht. Denn die Isar, ich zieh mit ihr mit.
Mach’s gut, meine Schöne, es wird nicht für immer sein, ich bin sicher. Und auch nicht für jetzt. Denn noch bleib ich ein bisserl bei dir. Ich werde jede Sekunde davon lieben.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der Blogparade „Was würdet Ihr an München vermissen?“ von muenchen.de. Alle weiteren tollen Beiträge findet ihr auf dieser Seite verlinkt.
2 comments
Liebe Petra, da haben wir ganz schön viel gemeinsam! Unterschied: Wir sind schon weggezogen. Mit drei Kindern in München in einem Haus mit großem Garten zu wohnen, muss man sich erst mal leisten können. Das ist der Münchner Wermutstropfen. Ich habe übrigens dank Deinem Beitrag gerade noch bei der München-Blogparade mitmachen können, die ich sonst verpasst häte. Und ich fand das über München schreiben letztes Jahr schon so toll: Da merke ich wie sehr ich München mag, obwohl ich in den 10 Jahren in München auch einiges nicht so toll fand – die schönen Sachen überwiegen!
Dein Text spricht mir aus der Seele! Auch wir schwanken immer wieder zwischen Stadtleben, der Lebendigkeit, dem Mitten-Drin-Sein und dem Wunsch nach mehr Freiraum, einem Garten in dem die Kinder frei spielen und die Natur erkunden können, mehr Luft zum Atmen und weniger Gehetze – noch können wir uns nicht endgültig entscheiden, aber in ein paar Jahren wird es uns wohl nach draußen aufs Land ziehen. Und dann wird es mir mit Sicherheit ganz ähnlich gehen wie du das in deinem Text beschreibst.
Liebe Grüße!