Gestern fuhr ich in die Münchner Innenstadt. Es war kurz vor vier, der Marienplatz war voller Menschen. Weihnachtsmarkt. Glühweinschwaden. Gehetzte Gesichter. Und das an einem Montag. Morgens hatte ich in der Zeitung etwas von „Adventswahnsinn“ gelesen, der am Samstag dort geherrscht haben muss. Kaufen. Schenken. Irre werden. Alles in diese drei Wochen hineinpressen, die noch bleiben bis zum „Fest der Feste“. Glitzer-Tand und Lichterketten erhellen jetzt unsere Tage, die so november-grau und klamm sind, dass man kaum vor die Tür gehen mag.
Aber die Geschenke! Die kaufen sich nicht von alleine, und deswegen fluten wir dann doch die Innenstadt und die Einkaufszentren und kaufen so viele Dinge, die man gar nicht braucht. Wenn wir ehrlich sind.
Da also waren wir mittendrin, der Bubi und ich. Im Tragetuch bekam er von dem ganzen Trubel gar nichts mit, welch ein Glück. Am Marienplatz wird grade gebaut, ein einziges Gewirr aus Baustelle und Menschen, die den Ausgang suchen. Hastig, genervt. Immer dem Glühweingeruch hinterher. Nein, es machte keinen Spaß, aber es musste sein, denn ich wollte doch unbedingt noch eine Zeitungsausgabe vom Tag der Geburt, das hatten wir all in der Aufregung vergessen. Und im Laden der Süddeutschen Zeitung hinterm Marienplatz bekommt man die Ausgaben der vergangenen vier Wochen noch nachträglich. Deswegen waren wir also dort. Im Gedränge. Wie hunderte andere Menschen auch.
Am Abend las ich eine Nachricht. Die UN beenden ihre Lebensmittelhilfe für die Flüchtlingscamps im Nahen Osten. Sie haben kein Geld mehr dafür. Weil viel geredet wird, aber wenig getan. Auch in den Regionen dort steht der Winter vor der Tür. Und wie immer leiden die Kinder am meisten. Ich lese davon: In einem der Camps ist ein neugeborenes Mädchen an einer Infektion am Nabel gestorben. Unvorstellbar? In unserer Welt vielleicht. In der es Hebammen und Ärzte gibt, die regelmäßig alles kontrollieren. Den Nabel. Das Gewicht.
Unsere Kinder sind so behütet und beschützt. Und gleichzeitig gibt es Kinder an anderen Orten, die sterben an etwas, das uns beinahe banal vorkommt. An einer Nabelinfektion. Und wenn nicht daran, dann an Kälte und Hunger.
Ich sehe mein eigenes, neugeborenes Baby an und denke daran, dass andere Mütter gerade um ihre Kinder weinen. Daran, wie wenig uns bewusst ist, in welchem Paradies wir leben. Wir können unseren Kindern soviel schenken. Wir schenken ihnen viel zu viel. Wir rennen durch die Innenstädte und unser größtes Problem besteht darin, dass wir zu wenig Zeit haben, um alle Geschenke rechtzeitig zu besorgen. Wir hetzen durch die Adventszeit wie im Schweinsgalopp. Wir müssen dies und wir müssen das. Dass damit der Sinn von Weihnachten schon längst verloren ist, wissen wir. Wir wollen es nur nicht wahr haben. Jedes Jahr aufs Neue nicht.
Die Welt ist niemals gerecht. Es wird immer Hunger, Leid und Tod geben. Und ich werde die Welt nicht retten können. Doch seitdem ich Kinder habe, schmerzt es nur immer so viel mehr. Ich vergesse all diese Nachrichten nicht mehr so schnell. Und ich denke daran, wenn ich durch die hell beleuchtete Fußgängerzone gehe und die Menschen an mir vorbeihuschen. Auf Geschenkejagd. Oder schnell noch auf einen Glühwein. Ich denke daran, dass es Kinder gibt, die daran sterben, dass sie nicht einmal das Nötigste zum Überleben haben. Weil es einfach allen egal ist.
Ich will nicht, dass mir das alles egal ist. Ich werde Weihnachten dieses Jahr nutzen, um dankbar zu sein. Dafür, dass ich zwei gesunde Kinder habe. Dafür, dass ich eine Familie habe. Und so vieles mehr. Man muss nicht gläubig sein, um dankbar zu sein. Mein Weihnachten soll nicht aus Glühweinbuden und kitschig-bunten Lichterketten bestehen. Sondern aus Liebe.