Meist packt er uns in Momenten, in denen wir gar nicht damit rechnen. In denen wir mit unserem Kopf ganz woanders sind, voll damit beschäftigt sind, unseren Alltag zu wuppen. In denen wir vielleicht glücklich sind, vielleicht gestresst oder genervt, vielleicht gerade müde, vielleicht entspannt. Der ganz normale tägliche Wahnsinn. Und dann bricht er da einfach ein, so ganz ohne Vorankündigung und macht sich breit, verdrängt alles andere, was da grade noch war. Beschäftigt uns. Bewegt uns. Wirft uns mit seiner Wucht und seiner Unplanbarkeit aus der Bahn.
In diesen Tagen wird viel über den Tod von Miriam Pielhau geschrieben und gesprochen. Eine Frau, eine Mutter, 41 Jahre erst, so jung, ihre Tochter ist vier. Im gleichen Jahr geboren wie meine. Immer wenn ich von ihr las und von ihrer Krankheit, dann war das so: Diese Frau ist so stark. Eine Kämpferin. Sie wird gewinnen. Ich mache mir da keine Sorgen. Wie sehr man sich irren kann.
Rückblende.
Ich sehe mich, als Studentin, gerade angekommen in München, dieser großen Stadt. Gerade eingelebt, Freunde gefunden. Meine Mutter ruft an, seitdem ich ausgezogen bin von zuhause ist unser Verhältnis sehr eng geworden. Ich besuche meine Eltern oft, fast jedes Wochenende. In der Tiefe meines Herzens bin ich, 21 Jahre alt, immer noch ein kleines Küken, nicht mehr im Nest aber auch noch nicht angekommen in der Welt. Ja, sagt meine Mutter, die hätten da was gefunden, der sehr erfahrene Arzt sei sich sicher, es sei bösartig. Morgen sei die OP. Sie ist Ende 40, niemals krank gewesen. Und sie ist meine Mutter.
Mein Feind der Krebs.
Es ist komisch in diesen Tagen. Ich weine, aber gleichzeitig bin ich ganz ruhig. Ich kann diesen Schmerz nicht zulassen, das Thema Tod lasse ich nicht an mich heran. Ich lerne, gehe in die Uni, zum Job. Fast als wäre alles normal. Der Tumor ist klein. Er hat nicht gestreut. Bestrahlungstherapie. Reha. Nach fünf Jahren gilt man als gesund. Sie ist gesund. Sie lebt.
Mehr als 15 Jahre sind seitdem vergangen und ich bin selbst Mutter. Und plötzlich merke ich, wie all dieser Schmerz, all die Panik, all das, was sich damals irgendwohin verkroch, immer noch da ist. Es ist da, jedes Mal, wenn ich selbst meine Brust abtaste, voller Sorge, irgendwann mal etwas zu entdecken, was da nicht hingehört. Es ist da, wenn ich an meine Kinder denke. An die Verantwortung, die ich mittlerweile habe. Nicht für mich. Für sie. In dem Moment, in dem du Kinder bekommst, wirst du so verletzlich. Weil dir plötzlich bewusst wird, wie verletzlich unser Leben, unser kleines Glück ist.
Hallo Angst. Ich stell mich dir.
Ich habe vergangenes Jahr schon einmal über diese Gedanken gebloggt. Was wir fassen können, weil es unsere Welt direkt berührt, geht uns nah. Und jetzt schon wieder. Gestern Abend nun Nizza. Ein Wimpernschlag nur. Und alles zerbricht.
In diesem Momenten wird uns unsere eigene Vergänglichkeit vor Augen geführt. Weil wir es sein könnten, die in dem Flugzeug sitzen. Weil wir es sein könnten, die zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind, wenn ein Verrückter um sich schießt. Bei denen ein Tumor diagnostiziert wird. Das Leben ist nicht gerecht. Es sucht sich viel zu oft diejenigen aus, die es nicht verdient haben zu gehen. Die gebraucht werden. Mütter und Väter. Seelenverwandte. Gute Menschen. Liebenswerte Menschen.
Und es sind diese Momente, die uns klar machen, dass wir alle gehen werden. Und dass es zum Leben gehört, den Zeitpunkt nicht zu kennen. Das verdrängen wir ihm Alltag und es muss auch so sein. Gestern las ich einen Facebook-Eintrag meiner Blogger-Kollegin Anette von göttlicher fotografieren, und sie schrieb: Lasst uns die Angst, die wir alle vor dem Tod haben, ein Stück weit annehmen. Das macht uns freier. Und nimmt uns gleichsam ein wenig von dieser Angst. Ja, sie hat recht.
Alltagssorgen. So egal.
Als ich von Miriam Pielhaus Tod las, hatte ich einen ziemlich schlechten Abend hinter mir. Der Mann hatte eine flapsige Bemerkung gemacht, ich war eingeschnappt, wütend, traurig. Und dann auch noch diese Nachricht. Ich konnte sehr lange nicht schlafen in dieser Nacht. Und dann, tags drauf, da dachte ich an diese Worte von Anette und wie weise sie sind. All diese kleinen Aufreger des Alltags, all die miesen Termine, die blöden Kollegen, die verschobenen Meetings, der Stau am Feierabend, das verhunzte Essen, der angebrannte Kuchen, der Balkon, der schon wieder von der Baustelle auf dem Dach komplett versaut ist – ist doch E G A L.
Was zählt, sind WIR. Die Familie. Der Moment. Bei Berlin Mitte Mom Ana gibt es dazu einen sehr ergreifenden Text zu lesen. Da wird das Herz ganz schwer beim Lesen. Und im Grunde ist dem auch nichts mehr hinzuzufügen. Denn genau so ist es doch. Die Zeit zu nutzen, die wir gemeinsam haben. Die wir mit unseren Kindern haben. Das ist es, was wichtig ist. Und nichts anderes.
Das Leben ist schön. Es kann uns so vieles geben. Und auch nehmen. Spuren zu hinterlassen, das wollen wir alle. Und wenn es nur im Kleinen geschieht. In unseren Kindern. Und so nehmen wir sie und herzen sie und drücken sie ganz fest an uns. Weil wir nicht wissen, wie lange wir es noch können.
Manchmal braucht es Poesie.
Damals, in diesem schicksalhaften Jahr 1999, saß ich an der Uni in einem Seminar über Rilke. Ich weiß, es ist furchtbar überstrapaziert, aber ich liebe dieses Gedicht. Das Schlußstück. Seltsamerweise war mir damals überhaupt nicht klar, wie sehr es auch mein Leben abbildete. Wir redeten viele Stunden darüber. Wie man das halt so macht als Literaturwissenschaftler.
Dabei ist es im Grunde doch ganz simpel. Es ist genau das, was uns nicht schlafen lässt, wenn wir von einer 41-jährigen Frau erfahren, die an Krebs gestorben ist, nur wenig älter als man selbst, mit einer kleinen Tochter, die fortan ohne Mutter leben muss. Es ist das, was uns immer in die Glieder fährt, wenn wir von plötzlichen Toden erfahren, von jungen Menschen, von Familienvätern, Müttern, Menschen, die mitten im Leben stehen. Menschen wie du und ich.
Es ist das, was wir niemals greifen können, egal wie sehr wir uns strecken und recken. Es ist der Regen mitten an einem sonnigen Tag, der Schnee im August, der dunkle Fleck inmitten des Lichts. Es ist der Grund, warum Menschen an einen Gott glauben, egal wie der auch heißen mag.
Weil es Dinge gibt, die wir nicht verstehen können. Niemals.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.