Geschichten aus dem Leben
Wir fahren den Weg jeden Morgen. Einmal die Isar entlang zur nächsten Brücke, dann die Flussseite wechseln und nach der Brücke rechts übers Kopfsteinpflaster hinein nach Untergiesing. Am Schyrenbad vorbei und nochmal abbiegen, dann sind wir bei der Krippe vom Bub. Meistens fahren wir mit dem Rad, ich vorne drauf, hinten der Anhänger mit zwei Kindern drin.
An einem dieser Morgen vor gar nicht allzu langer Zeit mussten wir bei der Ampel am Freibad anhalten. Und während wir warteten, kramte neben uns ein Mann in den Altglascontainern. Mit einem selbstgebauten Werkzeug, einer Art Haken, versuchte er, Flaschen aus dem Container zu angeln. Es gelang ihm nicht wirklich. Denn die Schlitze zum Reinwerfen sind schmal, und die Container sind ja nicht dafür gemacht, dass man händisch wieder was rausholt. Ich guckte auf die Ampel, die immer noch Rot zeigte. Sah zu meinen Kindern. Stieg vom Rad.
Hinten im Netz lagen seit Urzeiten zwei Orangina-Flaschen, die wollte ich immer mal zum Getränkemarkt bringen, aber natürlich hatte ich es immer wieder vergessen. Nicht so wichtig. Keine Zeit. Sind ja nur zwei kleine Flaschen. 25 Cent Pfand auf jeder.
Ich drückte dem Mann die beiden Flaschen in die Hand und er musterte mich dankbar. Und dann fing er an zu erzählen. Dass er Dachdecker gewesen sei und seit einem Arbeitsunfall nicht mehr richtig laufen könne. Die Krücken lehnten neben seinem Fahrrad, auf das er schon einen Sack voller Flaschen gebunden hatte. Und er erzählte weiter. Von den Ärzten, deren Atteste nicht eindeutig genug gewesen seien, so dass seine Berufsunfähigkeit nicht anerkannt worden wäre. Von der Unmöglichkeit, mit dem kaputten Bein wieder einen Job zu finden.
Am liebsten hätte ich zu ihm gesagt: Sie brauchen sich doch gar nicht rechtfertigen. Aber ich hörte einfach nur zu. Die Kinder hinten im Wagen wurden unruhig. Mama, wann fahren wir denn jetzt endlich weiter. Und er erzählte und ich traute mich nicht, ihn zu unterbrechen. Weil ich sah, wie wichtig es ihm war, sich zu erklären. Weil ich spürte, dass er sich schämte für das, was er da tat. Dabei sollte sich niemand schämen dafür, dass er wenig hat. Aber das ist so leicht gesagt, wenn man viel hat.
Denn in Momenten wie diesen wird mir bewusst, wie gut es uns geht. Wir haben zwei wunderbare Kinder. Eine schöne Wohnung. Wir können reisen. Wenn ich einkaufe, dann kaufe ich das, was ich für gut befinde. Den teuren Fisch. Das Bio-Fleisch. Ich achte auf die Qualität und dann erst auf den Preis. Wir sind gesund. Wir können arbeiten, in Berufen, die uns erfüllen. Unsere Kinder tragen gute Kleidung und haben viele Dinge, die, wenn man ehrlich ist, nicht notwendig sind. In den sozialen Medien poste ich Dinge, zu denen ich dann manchmal schreibe: #happylife oder #perfectmoment. Das sind Luxusmomente. Weil es so viele Menschen gibt, die das nicht können, so einen Moment genießen und ihn als „perfekt“ zu betiteln. Weil anderes einfach wichtiger ist. Lebenswichtig. Überlebenswichtig.
In Momenten wie diesen bin ich diejenige, die sich schämt. Weil für mich 50 Cent Flaschenpfand nichts bedeuten. Weil ich diese beiden Flaschen wochenlang durch die Gegend fahre, ohne auch nur an sie zu denken. Und weil ich an diesem Morgen keine Zeit hatte, um seine Geschichte zu Ende zu hören. Weil die Kinder drängelten, weil der Morgenkreis gleich anfing. Weil wir immer zu wenig Zeit haben für das, was wirklich wichtig ist.
Und lieber mal schnell zwei leere Flaschen Orangina einem Menschen in die Hand drücken, weil wir denken, damit eine gute Tat zu tun. Weil nie Zeit bleibt, diesen Menschen zu fragen, ob er Hilfe benötigt, mit dem klapprigen Rad und den schweren Flaschen und dem kaputten Bein. Vielleicht hätte das noch viel mehr geholfen als zwei mickrige Flaschen, die jetzt endlich nicht mehr im Fahrradanhänger rumflacken. Wer weiß das schon. Ich hab ja nicht gefragt.
Aber der Ablassbrief für die Woche ist unterzeichnet.
1 comment
Danke für deinen Artikel. Er hat mich sehr betroffen gemacht. Armut gibt es direkt vor unserer Haustür, nebenan, doch wir achten einfach viel zu wenig darauf und nehmen gleichzeitig viel zu viel für Selbstverständlich hin! Vielleicht wäre das ein Anlass, mal eine Bloggeraktion dazu zu machen? Was meinst du? Lg Sonja