Manchmal sind meine Kinder wild. Sie toben. Sie rennen. Sie sind laut. Manchmal alles auf einmal. Es passiert, dass wir uns ein Eis kaufen und vor der Eisdiele sitzen andere Familien. Eltern, Großeltern, Tanten, was auch immer, mit den Kindern. Diese Kinder sitzen am Tisch und essen ihr Eis. Mit Bedacht. Und Ruhe. Meine Kinder rennen herum, während sie ihr Eis essen. Sie flitzen auf dem Gehweg zwischen Eisdiele und Sitzbereich hin und her. Sie juchzen und sie rufen. Ich rufe auch: Jetzt kommt endlich mal her! Nicht so schnell! Stopp, da ist die Straße! Aufpassen, da sind noch andere Leute auf dem Gehsteig! Jetzt seid doch mal leise!
Das ist anstrengend. Die Leute mit den braven Kindern an den Tischen gucken schon ganz komisch und ich male mir aus, was sie sich gerade denken. Die hat ihre Kinder nicht im Griff. Von Erziehung hat die keine Ahnung. Wie gut, dass wir so brave Kinder haben. Mit jedem Blick wird es noch anstrengender und ich verfluche den Impuls, den ich vor der Theke hatte, dass ich mir selbst ein Eis gekauft habe, denn jetzt steh ich da und würde es am liebsten wegschmeißen, damit ich beide Hände frei habe, um die Kinder einzufangen. Irgendwann kommen sie dann angesaust. Von oben bis unten voll mit Schokoladeneis.
Von Mama-Wünschen und Kinder-Realitäten
In diesen Momenten fühle ich mich sehr klein und hilflos. Ich wünsche mir dann ein Kind, das brav an seinem Eisdielen-Tisch sitzt. Das an seinem Eis schleckt und sagt: Mama, danke, dass du mir ein Eis gekauft hast. Selbstredend haben sie sich beim Eisverkäufer zuvor ebenfalls bedankt, als er ihnen das Eis über die Theke gereicht hat. Ich wünsche mir Kinder, die beim Essen zuhause nicht auf ihrem Stuhl kippeln. Die ihr Zimmer aufräumen, ohne dass man sie 100 mal daran erinnert hat. In meinem Wunschträumen habe ich Kinder, die einfach mal das machen, was ich sage. Und nicht das genaue Gegenteil davon.
Tja. Meine Kinder sind eben ab und zu wild. Ich wollte mal nachschlagen, was Jesper Juul zu wilden Kindern sagt, aber ich hab es bisher nicht geschafft, eins seiner Bücher zu lesen. Ich habe ja keine Zeit, weil ich ständig ermahne und renne und versuche, „Leuchtturm“ und „Leitwolf“ zu sein. Ich versuche die Tricks der Kita-Erzieher zu kopieren, mit mäßigem Erfolg. Natürlich weiß ich, dass sie gerade bei mir Grenzen austesten. Und dass ich ihnen klare Grenzen setzen muss.
Grenzen setzen, logisch. Klappt nur nicht immer.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich setze diese Grenzen durchaus. Meine Kinder sind liebevolle Kinder, die wissen, wo ihr Platz im Leben ist. Die andere respektieren und die nicht wild im Sinne von bösartig sind. Sie haben nur einfach unglaublich viel Energie und diese Energie bricht sich eben immer wieder Bahn. Sie sind Draußen-Kinder. Einer der Gründe, warum wir uns ein Wochenend-Domizil im Grünen angeschafft haben, ist die Tatsache, dass sie in der Stadt einfach nicht genug Fläche haben, um sich auszupowern. Es gibt Tage, da ist das ausgeprägter. An anderen spielen sie auch gerne mal ganz versunken in sich selbst. Das sind die Momente, in denen ich merke, wie schön das sein kann, wenn das Energie-Level auch mal ein bisschen absinkt.
Kleine Stichprobe in Paris. Alles halb so wild.
Es gab vor einigen Jahren mal dieses Buch über französische Kinder und dass sie so viel besser erzogen seien als die Kinder in anderen Ländern. Dass sie schon von klein auf lernen, wie man sich bei Tisch benimmt. Vor ein paar Monaten war ich in Paris mit einer Freundin verabredet, sie brachte ihre sechsjährige Tochter mit. Ich nahm das mal zum Anlass, ein wenig zu beobachten, ob das stimmen könnte. Und als dann nach einer Weile die Langeweile aufkam und das Gekippel auf dem Stuhl anfing, da war ich irgendwie erleichtert.
Denn vielleicht ist es einfach ein Trugschluss zu glauben, dass man Kindern ihre natürliche Wildheit, die Freude am Entdecken, den Bewegungsdrang abtrainieren kann. Wobei, falsch ausgedrückt: Können kann man das vielleicht in einem gewissen Maße, so wie man Babys auch dazu bringt, alleine zu schlafen, auch wenn sie das noch gar nicht wollen. Die Frage ist nur: zu welchem Preis.
Zwischen Wildheit und Erziehung
Zugegeben, es ist ein schmaler Grat zwischen „Lasst den Kindern ihre angeborene Wildheit“ und diesem wichtigen Maß an Erziehung, das einfach sein muss. Es gibt Konzepte wie Unerzogen leben, wo die Kinder in erster Linie bestimmen, was gemacht wird. Für mich ist das nichts. Ich bin überhaupt nicht für diese Regelwerke gemacht, wo man sich erst mühsam in ein Konzept einlesen muss, um es dann zu praktizieren und man sich dann ständig verpflichtet fühlt, daran zu denken, ob man es jetzt auch richtig anwendet. (Falls ich aus Unkenntnis hier zu oberflächlich bleiben sollte – Verzeihung – jeder soll das machen und leben, was er mag und worin er sich wiederfindet. Nur für mich ist das eben nichts.)
Auch diese ganze Diskussion um Attachment Parenting, die kürzlich aufbrandete, hat mich irgendwie genervt. Dieses Entweder-Oder, das an sich gute Ideen zu einer Last macht, weil immer alle denken, ihr persönliches Rezept würde bei allen anderen auch funktionieren: Nein danke. Aber der Grundgedanke darin ist an sich auch mein liebstes Erziehungskonzept: Ich vertraue gern auf mein Bauchgefühl und mit dem bin ich bisher immer gut gefahren. Nähe, Geborgenheit – das machen wir sowieso. Vielleicht nicht immer geplant nach Konzept, aber ich bin überzeugt, dass man damit den Kindern einen guten Weg aufzeigt, der sie zu eigenständigen und wertvollen Persönlichkeiten heranreifen lässt.
Gedanken. Immer diese Gedanken.
Aber trotz aller Liebe und Nähe fetzt es halt dann doch mal. Vermutlich kennen das alle Familien. Manchmal denke ich sogar, ich bin in manchen Momenten zu streng. Ich verlange von meinem Kindern bestimmte Dinge, setze recht enge Grenzen, eben weil ich weiß, dass sie sie herausfordern werden. Ich will gar nicht immer diejenige sein, die „Halt! Stopp! Nein!“ schreit. Aber es passiert und dann ist es mir unangenehm, weil meine Regeln nicht befolgt werden. Ich hasse das. Und dann ist es auch vorbei mit dem Vertrauen in das Bauchgefühl.
Und manchmal ist es einfach zu viel. Wenn ich mir Riesenmühe gemacht habe, ein tolles Kindermenü zu kochen und alle nur die Augen verdrehen und „Bäh“ schreien. Wenn morgens, 5 Minuten bevor wir das Haus verlassen müssen, der eine vor der Zahnbürste Reißaus nimmt und die andere plötzlich nackt vor mir steht, weil sie keine Lust auf Leggings hat, weil ja draußen die Sonne scheint (bei gefühlt 3 Grad über Null). Wenn der Einkauf im Supermarkt erst in einer Tour aus „Nein, leg das wieder zurück“ besteht und wir dann natürlich die langsamste Schlange des Universums erwischen. Und so richtig schön Zeit für Zeter und Mordio vor dem Stapel mit Überraschungseiern bleibt. Dann gucken die Leute wieder komisch. Manche mitleidig. Manche lächeln wissend. Und mir bricht mal wieder der Schweiß aus.
Die alte Dame im Auto
Vergangene Woche war ich mit den Kindern draußen am See. Wir fuhren Boot und gingen dann zu Fuß nach Hause – und das ist ein ganz schöner Marsch. Müde waren wir also alle, aber als wir am großen Spielplatz ums Eck ankamen, rannten die Kinder plötzlich doch wieder los, einmal quer über die Wiese. Mama, wir wollen noch Blumen pflücken! Ich kam kaum hinterher mit meinem Sieben-Monats-Bauch und der Bub war schon weitergesaust, einmal rund um einen Strauch mit dunkelroten Beeren, der nahe an der Straße stand.
Ich wusste genau, dass er nicht auf die Straße rennen würde, denn meine Kinder sind Stadtkinder, auf den Verkehr aufzupassen haben sie gelernt, seitdem sie laufen können. Aber da hielt ein Auto an und eine alte Dame schaute mich vom Beifahrersitz aus böse an und zeigte mit ihrem spitzen Zeigefinger auf meinen Sohn. Jetzt steigt sie gleich aus, dachte ich, und will mir erzählen wie verantwortungslos es ist, die Kinder so nahe an die Straße zu lassen. Tat sie dann doch nicht. Aber alleine dieses Gesicht, das sie machte, sagte alles. Und ich? Ich hatte schon wieder dieses schuldige Gefühl.
Hat sie recht? Muss ich meine Kinder mehr im Zaum halten? Passe ich nicht gut genug auf sie auf? Erziehe ich sie falsch? Muss ich ihre Wildheit mehr bremsen? In diesen Momenten bin ich dann einfach wütend. Wütend auf die anderen, weil sie über meine Kinder urteilen, obwohl sie sie gar nicht kennen. Weil sie meinen, mir sagen zu müssen, wie ich auf meine Kinder aufzupassen habe. Die nicht verstehen, dass Kinder eben nicht immer nur süß und nett und mit Kulleraugen ausgestattet in der Puppenecke sitzen, während Mama in Ruhe zwei Tassen Kaffee trinkt. Dass sie halt nicht immer brav ihr Eis schlecken und dabei niemals nie auch nur ein Tropfen Eis aufs T-Shirt kleckert.
Und ich bin wütend auf mich selbst, eben weil es mich wütend macht.
Wie ich so vor mich hin grummle wegen dieser Frau im Auto und ihrem bösen und verurteilenden Blick, kommt ein Kind angesaust. Mein Kind. Und dann das andere. Sie haben bunte Blättersträuße in der Hand, die haben sie gesammelt. „Für dich Mama“, rufen sie und strahlen mich dabei an, „für die beste Mama der Welt!“
Da lächle ich und mein Herz wird ganz warm, weil sie einfach wunderbar sind. Weil ich gar keine anderen haben möchte als diese liebenswerten, großartigen, perfekten Kinder. Die manchmal vielleicht ein wenig wild sind. Aber im positiven Sinn. Neugierig. Offen. Abenteuerlustig. Wer will schon Annika sein, wenn er Pippi haben kann.
Übrigens, wenn ihr auch Kinder habt, die ab und zu mal etwas wilder und lauter sind und mal dringend etwas braucht, das euch aufbaut, lest diesen Post der australischen Bloggerin Constance Hall. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. ♥
1 comment
Ich finde, du hast ein wunderbares, liebevolles Bauchgefühl! Und zu deinem Bauchgefühl gehört natürlich auch mal Wut und Enttäuschung… Alles ganz, ganz normal ..
Und manchmal tut dieser leise Satz sehr gut: alles nicht so schlimm..ich liebe diesen Satz für mich!