Es gibt Dinge am Muttersein, auf die bereitet einen niemand vor. Da kannst du noch so viele Geburtsvorbereitungskurse besuchen und Schwangerschaftsratgeber lesen. Am Ende kennst du die beste Atemtechnik, um Wehen wegzuatmen. Du weißt, was ein Geburtshocker ist, ab wann man Himbeerblättertee trinken darf und wie eine Dammmassage funktioniert.
Aber keiner sagt ein Wort davon, welche emotionalen Stürme man in den ersten Monaten mit dem Baby erlebt. Keiner sagt dir, welche Belastungen deine Beziehung aushalten muss. Keiner bereitet dich darauf vor, dass du Situationen erleben wirst, in denen du dir selbst plötzlich so fremd bist. Und niemand verliert ein Wort darüber, wie schwer es ist, eine der essentiellsten Erfahrungen zu machen, die man als Mutter erleben muss. Immer und immer wieder, ein Leben lang. Die Geburt ist ein Anfang. Und gleichzeitig ein Ende. Das Ende der Schwangerschaft. Ab jetzt ist dein Kind Teil dieser Welt. Die Nabelschnur ist durchschnitten. Und es beginnt ein langer Prozess, der nicht umsonst „abnabeln“ heißt. Und deswegen ist dies eine Geschichte vom Abschied nehmen.
Der kleine Bub ist jetzt schon vier Monate alt und ich kann ihm förmlich beim Wachsen zusehen. Ich erinnere mich gut wie das war, vor zwei Jahren, als ich das alles schon einmal erlebt habe. Und eben weil mir keiner Bescheid gesagt hatte, war es so schwierig. Die Tatsache, wie schnell ein Baby groß wird, hat mich mit voller Breitseite erwischt. Ich hatte doch eben noch dieses kleine zerknautschte Neugeborene im Arm und plötzlich war es gefühlt riesig. Ein riesiges, sattes, zufriedenes Baby mit speckigen Michelin-Männchen-Beinen und einem vergnügten Blick aus braunen Kulleraugen. Es klingt verrückt, aber ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass diese kostbare Zeit so schnell vergeht. Ich habe gelernt, dass so viele neue schöne Momente auf einen warten. Und trotzdem hat es mich so sehr geschmerzt, wenn schon wieder ein Strampler zu klein war. Als das Ende der Stillzeit unwiderruflich gekommen war. Der erste Geburtstag. Die ersten Schritte. Der Moment, als sie mit den anderen Kindern der Krippengruppe einfach davonlief, ohne sich ein einziges Mal nach mir umzudrehen.
Jetzt ist es wieder da dieses Gefühl. Wieder sehe ich ein zufriedenes Baby mit braunen Kulleraugen an. Der Gedanke daran, wie er mich das erste Mal aus genau diesen Augen ansah, macht mich glücklich und traurig zugleich. Die ersten Monate sind schon wieder so schnell vergangen. Die erste Kleidergröße ist aussortiert. Das zarte Neugeborene ist nicht mehr da. Es ist zu einem properen Baby geworden, das viel lacht und wächst und gedeiht. Bald werden wir neue Meilensteine erklimmen. Brei essen. Fläschchen trinken. Auch diese Stillzeit wird vorbeigehen. Die Schwangerschaft ist schon wieder so weit weg. Manchmal wünsche ich mir meinen Bauch zurück. Dieses wunderbare Gefühl, eins zu sein mit seinem Körper und seinem Baby. Ich hätte es gerne zurück in diesen emotionalen Momenten.
Abschied nehmen ist schwer. Und ich weiß, es werden noch viele, viel schwierigere Abschiede kommen. Aus dem Baby wird ein Kleinkind wird ein Krippenkind wird ein Kindergartenkind. Schule. Abschluss. Vielleicht Studium. Ich habe meine Mutter nie gefragt, ob es ihr schwer gefallen ist, mich ziehen zu lassen. Mit 19. In eine fremde Stadt, in der ich niemanden kannte. Damals war es völlig normal für mich. Und jetzt, wo ich selbst Mutter bin, erstaunt es mich immer mehr, mit welchem Vertrauen mich meine Eltern in diese, meine eigene, neue Welt entlassen haben.
Es ist ein langer Weg dorthin. Ich habe schon so viel gelernt in den letzten zweieinhalb Jahren. Die kleinen Abschiede beim Baby-Bub fallen mir leichter als bei seiner Schwester. Denn ich weiß ja, was noch kommt und wie schön das sein wird. Und dennoch. Schaue ich mir mit Wehmut die Bilder seiner ersten Lebenstage an. Wünschte ich könnte sie nochmal herbeizaubern, diese magische Zeit, in der alles begann. Und in der gleichzeitig auch schon wieder etwas zu Ende ging.
Abschiede sind schwer. Aber sie machen auch stark. Sie zeigen uns, welche Macht die Vergangenheit hat. Und welche Kraft darin für die Zukunft liegt. Und bei allem darf man nicht vergessen, um was es eigentlich geht. Um das Heute. Das Jetzt. Den einen Moment, der nie wieder kommt, wenn er einmal vorbei ist. „Carpe Diem“ ist so ein abgelutschter Begriff, aber er ist doch auch so wahr.
Deswegen gehe ich jetzt und nehme mein Baby in den Arm. Mein süßes, speckiges Michelin-Männchen-Baby, das in diesem Monat angefangen hat, so süß zu glucksen und zu kichern. Das seine große Schwester verliebt anhimmelt und das mir in jeder Sekunde zeigt: In jedem Abschied liegt auch immer ein neuer Anfang.
EDIT: Als ich den Link zu diesem Text auf Facebook posten wollte, fiel mir das Gedicht von Herrmann Hesse ein. Es passt so gut. Deswegen … voilà, hier ist es.
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
5 comments
Hat dies auf wirwerdeneltern rebloggt und kommentierte:
Ja das ist es. Als hätte jemand meine Gedanken in Worte gefasst. Danke für den tollen Artikel!
Sehr gerne! Ich freu mich über das tolle Feedback :-)
Liebe Petra, ich kann Deinen derzeitigen Gemütszustand ein wenig nachvollziehen, aber „Kopf hoch“, alles wird besser.Unsere beiden Mäuse sind nicht ganz 2 Jahre auseinander geboren worden und das erste Jahr mit beiden war bisher die anstrengendste Zeit in meinem Leben (ja, noch wilder als meine Jugend :-)) Jetzt sind sie bald 4 und 6 und es ist HERRLICH beide miteinander zu haben. Das packst Du schon und mir hilft immer zu wissen : Wir sitzen alle in einem Boot :-)))
Liebe, sonnige Grüsse aus der Heimat von Nina :-)
Und plötzlich versteht man dieses Gedicht besser denn je, Danke!
Es ist erstaunlich nicht wahr! Ich mag diese Hesse-Zeilen unheimlich gerne. Und als ich sie dann gestern nochmal las, gerade als ich meinen Text zu Ende geschrieben hatte, da hat’s mich echt gepackt, wie sehr ich unbewusst darauf referenziert habe.